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Georg Seeßlen: Coronakontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe

Als gegen Ende der ersten Pandemiewelle die Rufe nach einer „Rückkehr zur Normalität“ immer lauter wurden, fragten wir in einem Aushang unseres Buchladens: „welche Normalität?“ Auch für Georg Seeßlen hält eine Rückkehr zur Normalität eher Schrecken denn Erleichterung bereit angesichts eines Systems, in dem Menschen nicht als Menschen, sondern in erster Linie als Arbeitskräfte und Konsument*innen gelten, wie die Coronakrise verschärft zutage treten lässt. Hauptsache „die Wirtschaft“ wird gerettet (und Weihnachten). In den ersten Wochen der Coronakrise schien kurz die Möglichkeit eines fundamentalen Game Change, wie Seeßlen es nennt, auf. Plötzlich waren es nicht, wie noch 2007, die großen Finanzwirtschaftsunternehmen, die als „systemrelevant“ bezeichnet wurden, sondern das schlecht bezahlte und chronisch überarbeitete Pflegepersonal. Doch während damals die großen Banken und Unternehmen mithilfe öffentlicher Gelder gerettet wurden, erhält das Pflegepersonal heute allenfalls ein paar Almosen und warmen Applaus. Und war da nicht mal was mit den Arbeits- und Lebensbedingungen von Schlachthausarbeiter*innen? Ach ja, jetzt wird mehr gelüftet, alles gut. Da wundert es dann kaum mehr, dass der Vermögenszuwachs der Superreichen im Coronajahr 2020 ungewöhnlich groß war.

Im Nachgang der ersten krisenhaften Pandemiewelle haben Demokratie und Kapitalismus, so Seeßlen, „ihre letzte Chance verspielt, sich im Namen von kritischer Vernunft und humanistischer Liberalität zu erneuern.“ Das System erweist sich in der Krise als höchst flexibel, aber nicht lernfähig, seine eigenen inneren Widersprüche bearbeitet es nicht. „Kultur“ gerät völlig unter die Räder und mit ihr das verändernde Potenzial, das in ihr steckt. Stattdessen haben Verschwörungstheorien Oberwasser und einem Freiheitsverständnis wird lautstark Ausdruck verliehen, das Gesellschaft nicht mitdenkt und Solidarität nicht will: „Die soziale Zärtlichkeit, die sich im Maskentragen ausdrückt, ist dem rechten Maskenphobiker schon zu viel.“ Die Krise wird zum Anlass genommen, die Grenze zwischen „wir und die anderen“ zu festigen, die sozialen Gräben werden nur noch tiefer. Insofern ist Coronakontrolle, wie Seeßlen einleitend warnt, „nicht besonders hoffnungsfroh“. Lesenswert ist es unbedingt.

Denn dieses schmale, aber wahnsinnig dichte und gehaltvolle Buch durchdringt das Phänomen Krise – insbesondere die Coronakrise – und das vielschichtige Zusammenwirken von Subjekt, Gesellschaft und Staat. Was die Krise ökonomisch, politisch, kulturell, medial und psychologisch bloßlegt, fächert Seeßlen übersichtlich auf. So enthält der Text zahlreiche Auflistungen, die das Erfassen des komplexen Themengeflechts erleichtern, zum Beispiel eine Liste der vorhersehbaren neoliberalen Strategien, mit denen die Krise bewältigt werden soll, eine Liste der Begleitumstände dieser Bewältigung oder eine Liste der psychischen Abwehrmechanismen.

Die großen Strukturen stehen ebenso im Fokus wie der einzelne Mensch und sein Körper. Was bedeutet Kranksein für das Individuum und was für die Gesellschaft? Seeßlen resümierte bereits im Sommer 2020, als er die letzten Worte dieses Buches schrieb, vorausschauend, dass „die Krankheit nicht zum Verschwinden zu bringen“ sei. „Sie wird Teil unseres Lebens“. Die Frage ist, wie nun damit umgehen. Ein auf Krisen gebautes System, das das „Opfer als Wesensbestandteil“ in sich trägt und das bereits „die Opfer von Arbeitslosigkeit und Zu-Tode-Arbeit, die Opfer von Fundamental-Konkurrenz und Neo-Sklaverei“ ungerührt einkalkuliert, wird durch seine Art der „Bewältigung“ der Coronakrise nur weitere Opfer produzieren.

Die Post-Corona-Gesellschaft und was sie uns über die Zukunft erzählt
Einband: gebundenes Buch
EAN: 9783903290372
15,00 €inkl. MwSt.

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